Die genetische Ursache der spinalen Muskelatrophie (SMA) ist eine Veränderung der Erbsubstanz, eine sogenannte Mutation. Diese kann über Generationen hinweg unbemerkt weitegegeben werden, ohne zur Erkrankung zu führen. Erst wenn beide Elternteile ein mutiertes Gen weitervererben, kann die spinale Muskelatrophie auftreten.
Bei etwa 95-98 % der SMA Betroffenen befindet sich die Mutation im SMN1-Gen und kann mittels (molekulargenetischer) Blutuntersuchung diagnostiziert werden. Diese Untersuchung bezeichnet man als Test auf Deletion/Mutation des SMN-Gens. In der gleichen Untersuchung kann auch die Anzahl an Kopien des verwandten SMN2-Gens bestimmt werden. Die Anzahl der Kopien des SMN2-Gens können den Krankheitsverlauf der SMA positiv beeinflussen und lassen daher einen Rückschluss auf den Schweregrad der Erkrankung zu. Die Ergebnisse der Blutuntersuchung liegen in der Regel bereits nach 3 bis 4 Wochen vor.2
Eine Liste häufig verwendeter Begriffe finden Sie hier.
Neugeborenenscreening
Das erste, was ein Arzt vermutlich bei einem Baby mit spinaler Muskelatrophie feststellt, sind Muskelschwäche und eine verminderte Muskelspannung (Hypotonie).1
Da eine verminderte Muskelspannung bei verschiedenen genetisch bedingten Erkrankungen auftritt, veranlasst der Arzt möglicherweise Untersuchungen auf eine angeborene Hypotonie. Dabei erfolgen Tests auf spinale Muskelatrophie, myotone Dystrophie (Typ 1), das Prader-Willi-Syndrom, das Angelman-Syndrom und die mütterliche uniparentale Disomie 14.4 Die Dauer der Untersuchungen auf angeborene Hypotonie beträgt etwa 3 Wochen.4
Das Neugeborenenscreening auf SMA ist noch kein Standard, allerdings ist eine zeitnahe Diagnose entscheidend. Eine frühe Diagnose kann die Prognose von Kindern mit spinaler Muskelatrophie verbessern.5
Medizinische Detektivarbeit
Zur Bestätigung der SMA fordert der Neurologe eine Blutuntersuchung an,
die bestimmte Veränderungen in Ihrer DNA nachweist; dabei wird geprüft, ob
Deletionen oder Mutationen im SMN-Gen vorliegen.2,26,31
Je nach Labor kann es etwa 2–4 Wochen dauern, bis die Ergebnisse vorliegen.2
Aufgrund der Seltenheit (Inzidenz 1:6.000-10.0001) und den diffusen Symptomen wird die Krankheit gerade bei Jugendlichen und Erwachsenen häufig erst lange Zeit nach den ersten Anzeichen diagnostiziert. So war es auch im Fall des 20-jährigen Samuel, bei dem die Diagnose erst Jahre nach dem Auftreten der ersten Symptome gestellt wurde:
Symptome
Jeder Betroffene kann andere Symptome entwickeln. Die Erkrankung wird je nach Alter bei dem sich die ersten Symptome zeigen (Manifestationsalter) und erreichten motorischen Fähigkeiten in verschiedene Typen unterteilt. Außerdem kann jeder SMA-Typ in verschiedenen Schweregraden auftreten. Bis zu 25 % der Betroffenen können keinem Typ eindeutig zugeteilt werden.3 Somit sind die Übergänge zwischen den Typen fließend.
Erkrankungen, die SMA ähneln
Es gibt andere Erkrankungen, die der spinalen Muskelatrophie ähneln, aber andere genetische Ursachen haben. Zu diesen Erkrankungen zählen:
Spinale Muskelatrophie mit Atemnot (SMARD)
SMARD zeichnet sich durch ähnliche Symptome wie die infantile spinale Muskelatrophie aus, betrifft jedoch die Nervenzellen des oberen Rückenmarks und nicht die unteren motorischen Nervenzellen. Kinder mit SMARD haben normalerweise ein niedriges Geburtsgewicht und entwickeln erste Symptome zwischen dem 3. und 6. Lebensmonat, z.B. schwere Atemnot aufgrund der Lähmung des Zwerchfells.8
Distale hereditäre Motoneuropathie (gelegentlich als SMA Typ V bezeichnet)
Die distale hereditäre motorische Neuropathie ist eine extrem seltene autosomal dominante genetische Erkrankung. Dies bedeutet, dass nur eine Kopie des mutierten Gens vererbt werden muss, damit die Erkrankung auftritt. Die distale hereditäre Motoneuropathie betrifft die Nervenzellen im Rückenmark. Sie zeichnet sich durch Schwäche und Muskelschwund aus, die in den oberen und unteren Extremitäten beginnen und sich später auf andere Muskeln ausbreiten.9-11
Spinobulbäre Muskelatrophie Typ Kennedy (Kennedy-Krankheit)
Anders als die spinale Muskelatrophie, bei der die motorischen Nervenzellen betroffen sind, betrifft die Kennedy-Krankheit sowohl die unteren motorischen als auch die sensorischen Nervenzellen. Sie tritt nur bei Männern auf. Die Kennedy-Krankheit ist eine Erkrankung des X-Chromosoms, die etwa 1 von 40.000 Männern betrifft.12
Manifestationsalter
Die spinale Muskelatrophie wird meist zuerst von einem Elternteil bemerkt, dem auffällt, dass sein Kind bestimmte Meilensteine nicht erreicht
Eltern können beobachten, dass ihr Kind altersgemäße Meilensteine der körperlichen Funktionen nicht erreicht, zum Beispiel die Fähigkeit, den Kopf anzuheben, sich von einer auf die andere Seite zu rollen und frei zu sitzen. Auch das Schlucken oder die Nahrungsaufnahme kann mit Schwierigkeiten verbunden sein und die Kinder können die Fähigkeit verlieren, sicher zu schlucken, ohne dass sie sich verschlucken und ohne dass Nahrung in die Lungen gelangt (Aspiration).9,13
Wenngleich sich jedes Baby nach seinem eigenen Rhythmus entwickelt, bietet die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Rahmen der Multicentre Growth Reference Study (MGRS) Richtlinien zu den Meilensteinen der motorischen Entwicklung an.14
Bei Jugendlichen oder Erwachsenen stellt entweder der Betroffene selbst oder sein Umfeld eine zunehmende Schwäche im Alltag fest
Gerade bei der später einsetzenden SMA treten die Symptome und Einschränkungen eher schleichend auf und fallen den Betroffenen nur bedingt auf. Oftmals werden Bewegungen, die schwer fallen, umgangen oder durch andere Bewegungsabläufe und Abstützen kompensiert.
Eine zunehmende Muskelschwäche, gerade in den Oberschenkeln und Armen könnte ein erster Hinweis auf eine SMA Erkrankung sein und sollte am besten in einem neuromuskulären Zentrum abgeklärt werden.
Die Diagnostik-Initiative für Spinale Muskelatrophie (SMA) ermöglicht mittels eines einfachen Trockenbluttests, den genetischen Defekt im SMN1-Gen aus nur einem Tropfen Kapillarblut zu bestimmen. Sprechen Sie Ihren Arzt darauf an.
Referenzen
1. Lunn MR, Wang CH. Spinal muscular atrophy. Lancet. 2008;371(9630):2120-2133. 2. Wang CH, et al. Consensus statement for standard of care in spinal muscular atrophy. J Child Neurol. 2007;22(8):1027-1049. 3. National Institute of Neurological Disorders and Stroke. Motor Neuron Disease Fact Sheet. 2012. Available at: https://www.ninds.nih.gov/Disorders/Patient-Caregiver-Education/Fact-Sheets/Motor-Neuron-Diseases-Fact-Sheet. Accessed January 9, 2017. 4. Genetics Home Reference. SMN1 gene. 2012. Available at: https://ghr.nlm.nih.gov/gene/SMN1. Accessed January 9, 2017. 5. Genetics Home Reference. SMN2 gene. 2012. Available at: https://ghr.nlm.nih.gov/gene/SMN2. Accessed January 9, 2017. 6. Jones et al. Systematic review of incidence and prevalence of spinal muscular atrophy (SMA). European Journal of Paediatric Neurology. 2015;19(supp. 1):S64–S65. 7. Finkel R, et al. 209th ENMC International Workshop: Outcome Measures and Clinical Trial Readiness in Spinal Muscular Atrophy 7-9 November 2014, Heemskerk, The Netherlands. Neuromuscul Disord. 2015;25(7):593-602. 8. Cure SMA. At School. 2016. Available at: http://www.curesma.org/support-care/living-with-SMA/daily-life/at-school/. Accessed January 9, 2017. 9. National Organization for Rare Disorders. Werdnig-Hoffman Disease. 2012. Available at: https://rarediseases.org/rare-diseases/werdnig-hoffmann-disease/. Accessed January 9, 2017. 10. Iannaccone ST. Modern management of spinal muscular atrophy. J Child Neurol. 2007;22(8):974-978. 11. Cure SMA. Cure SMA Medical Provider Information Kit. Available at: http://www.curesma.org/documents/support--care-documents/2016-sma-awareness-mpak.pdf. Accessed January 9, 2017. 12. Cherry JJ, et al. Identification of novel compounds that increase SMN protein levels using an improved SMN2 reporter cell assay. J Biomol Screen. 2012;17(4):481-495. 13. Darras BT, Royden Jones H Jr, Ryan MM, De Vivo DC, eds. Neuromuscular Disorders of Infancy, Childhood, and Adolescence: A Clinician’s Approach. 2nd Ed. London, UK: Elsevier; 2015. 14. Prior TW. Perspectives and diagnostic considerations in spinal muscular atrophy. Genet Med. 2010;12(3):145-152. 15. TREAT-NMD. Diagnostic testing and care of new SMA patients. Available at: http://www.treat-nmd.eu/downloads/file/standardsofcare/sma/english/sma_soc_en.pdf. Accessed January 9, 2017. 16. National Organization for Rare Disorders. Spinal Muscular Atrophy. 2012. Available at: https://rarediseases.org/rare-diseases/#causes. Accessed January 9, 2017. 17. Quest Diagnostics. SMA Carrier Screen. 2013. Available at: http://www.questdiagnostics.com/testcenter/testguide.action%3Fdc%3DTS_SMA. Accessed January 9, 2017. 18. Arkblad E, et al. A population-based study of genotypic and phenotypic variability in children with spinal muscular atrophy. Acta Paediatr. 2009;98(5):865-872. 19. Jedrzejowska M, et al. Incidence of spinal muscular atrophy in Poland--more frequent than predicted? 2010;34(3):152-157. 20. Prior TW. Spinal muscular atrophy: a time for screening. Curr Opin Pediatr. 2010;22(6):696-702. 21. Sugarman EA, et al. Pan-ethnic carrier screening and prenatal diagnosis for spinal muscular atrophy: clinical laboratory analysis of >72,400 specimens. Eur J Hum Genet. 2012 Jan;20(1):27-32. 22. Ogino S, Wilson RB. Spinal muscular atrophy: molecular genetics and diagnostics. Expert Rev Mol Diagn. 2004 Jan;4(1):15-29. 23. Norwood et al, Prevalence of genetic muscle disease in Northern England. Brain. 2009;132(Pt 11):3175-86.